Um 2 Uhr passieren wir wieder Wasser: es ist die Lomme-Bai, die im obersten Teile durch das hereinströmende Wasser eines Flusses eisfrei, sonst aber noch bis zur Hinlopenstraße mit Buchteneis gefüllt ist. In allen Farbenübergängen von reinem Blau bis zum sattesten Grün schillert es unter uns. Nach zweieinhalbstündigem Fluge schrauben wir uns nun auf 2000 Meter hinauf. Nach Nord und Ost blicken wir über den so gefürchteten Schiffahrtsweg der Hinlopenstraße Hunderte von Kilometer hinein in das rätselhafte Nordostland, dessen Inlandeis sich wie ein Lavastrom in das umliegende Meer ergießt. Von der in Nansens Karte eingetragenen, über 400 Meter hohen Eiswand konnte ich nichts bemerken, im Gegenteil schien mir das Inland aus einer einzigen, sanft gewellten Eisfläche zu bestehen. Ein steifer Nordostwind läßt uns nur langsam nach Norden kommen. Machen wir eine Kurve, um das Panorama aufzunehmen, so werden wir wieder nach Süden zurückgetrieben. Im Norden der Hinlopenstraße ist das Meer zum größten Teil eisfrei, dagegen ist die zirka 30 Kilometer breite Straße südlich der Wahlenberg-Bai noch vollständig mit schwerem Packeis gefüllt. Nur vereinzelt sehe ich kleine, tiefblaue Wasserstellen, in denen Treibeis schwimmt. Es ist unmöglich, die auf der Karte eingezeichneten vielen kleinen Inseln vom Eise zu unterscheiden. Weit im Nordosten ragt die hellglänzende Schneekuppe über das flache Inlandeis des Nordostlandes, Weg und Richtung zum Nordkap in 80½ Grad nördlicher Breite weisend. Dort oben herrscht klares Wetter und es wäre ein leichtes gewesen, bis zum 81. oder sogar 82. Grad vorzudringen, jedoch die Zeit drängt.
Auf der Höhe der Walfischinseln haben wir nun den 80. nördlichen Breitegrad überflogen und biegen jetzt nach Westen um. Linker Hand, direkt vor uns, liegt die noch eisbedeckte Treurenberg- oder Sorge-Bai, wo 1923 das Schiff „Herzog Ernst“ der unglücklichen Schröder-Stranz-Expedition vom Eise überrascht und eingeschlossen wurde. Von zehn jungen deutschen Helden hatten nur drei nach vierteljährlicher Wanderung die norwegischen Kohlengruben in der Advent-Bai wieder erreicht!
Um 3 Uhr nachmittags befinden wir uns über offenem Meere dicht vor Grey-Huk, der nördlichen Spitze von Andreeland. Nach Süden erstreckt sich über 130 Kilometer weit der Wijde-Fjord in die blauen Berge hinein. Deutlich erkenne ich aus unserer hohen Warte dahinter die charakteristischen Kreide- und Juraformationen der Green-Habour umliegenden Berge. Gegen Westen ist das Bild noch wilder und wuchtiger. Da hebt sich aus unendlichen Tiefen des Polarmeeres gleich einer schwimmenden Festung ein scharfkantiger Gipfelkranz in blauen Farben vom vergoldeten Westhimmel ab. Vergessen ist die Sorge um das Nachhausekommen über all dieser Pracht.
Die Temperatur ist auf unserer Höhe von 2200 Metern nicht merklich gefallen, in Green-Harbour beim Start war sie 5 Grad Celsius und jetzt zeigt sie immer noch ein Grad Wärme. Trotzdem ein kräftiger Windstrom durch die Kabine zieht, ist mir heiß von der Arbeit und der Schweiß steht mir auf der Stirne. Auf der Steuerbordseite treiben auf dem ruhigen Meere vereinzelt Eisberge. Dann folgt nach ungefähr 50 Kilometern ein scharf abgegrenztes, zusammenhängendes Nebelmeer, dessen Dichte ich auf höchstens 100 Meter schätze. Da hindurch führt der heißumstrittene Weg zum Pol, – noch 600 Meilen weiter nach Norden, in sieben- bis achtstündigem Fluge und wir sind am Nordpol. Fliegerisch betrachtet eine Leichtigkeit, solange der Motor arbeitet und die Sonne die Navigation ermöglicht! Was aber, wenn man zur Landung gezwungen wird und dann nicht mehr hochkommt? Ohne Hundeschlitten und Proviant wäre es eine Unmöglichkeit, sich mit eigener Kraft aus der Eiswüste zu retten; auf fremde Hilfe ist hier oben nicht zu rechnen. Die Eroberung des Pols mittels Flugzeug wird also solange ein „sporting-chance“ bleiben, bis es möglich sein wird, in einem Großflugzeug alle nur erdenklichen Hilfsmittel für einen etwaigen Rückzug über das Eis mitführen zu können. Heute sind daher die Aussichten für ein Lenkluftschiff, z. B. einen Zeppelinkreuzer, günstiger, aber die rasch ändernden Wetterlagen sprechen doch eher für ein Flugzeug mit großer Geschwindigkeit, als für ein relativ langsames Luftschiff.
Der Motor arbeitet jetzt einwandfrei und um 3.14 überqueren wir die schneebedeckte Tundrafläche der Rentierhalbinsel, vor uns schimmert smaragdgrün das Treibeis in der Broad-Bai. Ich deute meinem Führer „Gleitflug“ an, um dicht über dem Wasser zu filmen.
Auf ungefähr 500 Meter Höhe ruft mir Neumann mit kräftiger Stimme nach hinten: „Eisbär in Sicht“ und zeigt dabei nach vorne auf eine frei schwimmende Eisscholle. Donnerwetter, denke ich mir, hat der Kerl gute Augen, denn ich konnte trotz angestrengten Suchens kein Tier entdecken. Wenige Meter hoch rasen wir mit Windeseile über den Eisberg und jetzt erst komme ich dahinter, daß Neumann nicht Eisbär, sondern Eisberg gerufen hatte, den photographisch festzuhalten ihm interessant erschien. Herzlich lachen wir über unser kleines Mißverständnis, dann steigen wir wieder allmählich höher, den Norwegerinseln entgegen, an deren Westseite vom Meere her die grauen Nebel schon heraufschleichen.
Um 4 Uhr schaue ich aus 1500 Meter Höhe hinunter zum Virgohafen auf der Däneninsel. Dort stehen zwei Baracken; die eine des Ballonfahrers Andree, der mit seinen Begleitern Strindberg und Fraenkel am 11. Juli 1897 aufgestiegen war, um nicht wiederzukehren; die zweite jenes Amerikaners Wellmann, der es erlebt hatte, welches Aufsehen Andrees unglückliche Fahrt in der Welt machte. Das mußte sich in größerem Maßstabe ausnützen lassen. Mehrere Jahre hindurch, von 1906 – 1909 wurden alle Zeitungen der Welt beständig mit Berichten über jeden Schritt der Vorbereitungen dieser nur auf Reklame aufgebauten Expedition überschüttet. Erst 1909 zog Wellmann mit seinem Ballon nach Norden, fand aber, es sei besser, umzukehren, solange noch ein Schiff in der Nähe war. So ließ er sich von Kapitän Isachsen’s Expeditionsschiff „Farm“ auffischen und teilte darauf der sensationslüsternen Welt seine tollkühnen Abenteuer mit. Unterdessen war Dr. Cook nach Hause gekommen, ein überlegener Konkurrent, der berichtete, er sei auf dem Nordpol gewesen und war auf ebenso lustige Weise. Und dann kam auch Peary, der das gleiche behauptete.
Der Nebel war unterdessen an die Westküste Spitzbergens herangerückt und zwingt uns, von der Smerenberg-Bai aus über die Berge der Halbinsel Reusch zu fliegen, um so zur Magdalenen-Bai und über den Lilienhöökgletscher zur Croß-Bai zu gelangen. Jäh, unvermittelt fallen die dunklen Granitberge und weiß schimmernden Gletscher aus 1300 Meter Höhe in die leicht gekräuselten, grünblauen Wasser dieses herrlichsten aller Fjorde.
Die nun folgenden zwei Stunden bringen unseren Nerven die nötige Entspannung. Ruhig ist die Luft, der Motor singt sein einförmig ehernes Lied. Unser Ziel ist schon sichtbar, auch befinden wir uns über dem verhältnismäßig am meisten befahrenen Teil Spitzbergens. Hätten wir auf einem der vielen flachen Gletscher niedergehen müssen, so wären wir, dank unseren Skiern, in drei bis vier Tagen nach der Kohlengrube in der vor uns liegenden Kings-Bai gekommen. Aus einem unendlichen Wolkenmeer, das sich wie eine feuerig-flüssige Goldmasse über das Meer nach Westen ergießt, ragen die kristallenen Berge des Prinz Karl-Vorlandes in langgestreckter Front nach Süden heraus. Gewaltige Gletscherströme führen in nordöstliche Richtung, zwischen den Schneeplateaus von Holtedahl und Lövenskjöld und aus den aus Schutthalden bestehenden Drei Kronen nach dem Eisfjord, auf den wir jetzt zuhalten.
Die Annahme liegt nahe, daß Green-Harbour bereits im Nebel steckt. Dann bleibt uns aber noch die Möglichkeit, zur Advent-Bai zu fliegen, wo wir vor einigen Tagen Gäste der norwegischen Kohlengesellschaft waren, deren Direktor uns für den Notfall in zuvorkommender Weise seine Unterstützung zugesagt hatte. Nach 40 Minuten dauernden Fluge über die Gletscherwelt des König-Oskar-II.-Land befinden wir uns jetzt über dem Eisfjord. Wir erkennen auch, daß der Eingang zum Fjord vom Green-Harbour noch nebelfrei ist. Das Glück war uns bis zum letzten Augenblick hold geblieben, aber schon wenige Stunden später brach das Unwetter von Westen herein. Als Neumann um 6.15 Uhr 1600 Meter über der Walfangstation unseren treuen Metallvogel in eleganten Spiralen niedergleiten ließ, da laß ich ein letztes Mal meine schaumüden Augen über das mir liebgewordene Spitzbergen gleiten. Höher schlägt uns beiden das Herz vor Freude über den wohlgelungenen ersten großen Flug über die Arktis. In sechs Stunden vierzig Minuten hatten wir das schönste und interessanteste Gebirgsland der Arktis kennengelernt und dazu eine große Zahl von photographischen Aufnahmen heimgebracht. …“
Angelika Hofmann
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Quelle: Junkers-Nachrichtendienst 1923, Nr. 8