Beim ersten Morgengrauen schwang sich die „Wachtel“, von Bauerhin gesteuert, in die Lüfte. Über das Charkow-Tal hinweg nahmen wir zunächst Richtung auf das imposante Hauptgebäude des ehemaligen AEG-Werkes, das schon zu Kriegsbeginn beschlagnahmt wurde. Rechts rückwärts lag, noch im Schlummer, die dreigeteilte Stadt, deren Straßenzüge an den blitzenden Lichterlinien reichlicher Nachtbeleuchtung zu erkennen waren. Dann ging es mit Südostkurs auf Rostow zu. Bei leichtem Gegenwind wurde die 420 km weite Strecke in 3 ½ Stunden zurückgelegt. Bauerhin ließ die „Wachtel“ dabei ganz allmählich bis auf 1500 m Höhe klettern. Meine Pelzlederjacke leistete in der Morgenkühle gute Dienste. Gewölk im Osten verschaffte uns einen überaus prächtigen Sonnenaufgang über einförmiger Steppenlandschaft. Teile des Donez-Steinkohlenreviers wurden überflogen, die mit weit auseinanderliegenden vereinzelten Werken jeden Vergleich mit deutschen Industriezentren ausschlossen. Und dann kam, in der Morgensonne schimmernd, der nordöstliche Zipfel des Asowschen Meeres in Sicht. Tangarog blieb rechts liegen. Angesichts des weitgedehnten Don-Deltas glitten wir gemächlich zur russischen Fliegerstation südwestlich von Rostow hinab. 8.15 Uhr erfolgte die Landung.
Zwei startbereite Junkers-Vögel hatten unseren fahrplanmäßigen Frühflug abgewartet, um ihrerseits auf die regelmäßige Donnerstags-Reise zu gehen, der eine nach Charkow, der andere nach Baku. Der letztere mit dem schönen Namen „Bremse“ übernahm von der „Wachtel“ Post, Gepäck und zwei Passagiere, den kaukasischen Luftflottenmann und mich. Flugzeugführer Schäfer und sein humorvoller Bordmonteur Joneck bestiegen die luftigen Führersitze.
8.45 Uhr wurde erneut gestartet. Rostow mit der hochtürmigen Donbrücke blieb rasch zurück. Bis Kawkaskaja am Kuban-Fluß, das wir kurz vor 10.30 Uhr erreichten, ging es unter Abschneidung des großen Bahnbogens querfeldein über endlose, bis auf wenige Dörfer und Flußtälchen völlig einförmige Ebenen. Nur mit Motorpflügen und Dreschmaschinen, die wir vielfach in Tätigkeit sahen, läßt sich auf diesen oft weitab von jeder menschlichen Siedlung gelegenen Feldern Landwirtschaft treiben. Mit einiger Phantasie konnte man sich weit links, wohl noch über dem flimmernden Horizont, den künftigen deutschen Musterbetrieb am Mamytsch vorstellen, der dort auf Grund der Krupp’schen Landkonzession entstehen soll.
Inzwischen hatte die Sonne des Südens längst ihre Strahlenwirkung fühlbar werden lassen und, als wir jetzt weiter der Bahn entlang das Kuban-Tal aufwärts verfolgten, gab es eine tüchtige Schaukelei, die dem vergnügt dreinblickenden Piloten allerhand zu tun gab. Um 11 Uhr passierten wir Armawir. Der Kuban versteckte sich hier weite Strecken völlig unter dicht wachsendem Schilf. Der Kaukasus mit dem Elbrus, dem wir wesentlich näher gerückt waren, lag hinter Dunstschleiern verborgen. Die Hitze wurde immer drückender, so daß man trotz des durch die offenen Kabinenfenster strömenden Luftzugs auch den Rock auszog.
Man war gerade wieder einmal so hübsch im Eindruseln, da verstummte der Motorlärm und die „Bremse“ rutschte im Gleitflug einem unweit des großen Dorfes zwischen Bahn und Flug gelegenen Stoppelfelde zu. Zwischenlandung. Der nicht für solche tropischen Temperaturen berechnete Normalkühler hatte ein kleines Leck bekommen, und der allmählich eingetretene Wasserverlust mußte ausgeglichen werden.
Wir waren kaum aus unserer Kiste geklettert, da brachen schon wahre Schützenlinien, mit einzelnen dichteren Stoßtrupps durchsetzt, aus allen Ecken und Ende des Dorfes und in wenigen Minuten waren wir von einer bunten Menge russischer Bauern und Bäuerinnen umringt, die nicht nur durch Fragen, sondern auch durch Befühlen des merkwürdigen Aluminium-Vogels ihr brennendes Interesse kundgabt. Das gewünschte Wasser wurde schnellstens herbeigeschafft. Inzwischen hatten sich zwei hochgewachsene blondbärtige Männer zu unserer Freude als deutsche Kolonisten entpuppt, die uns erzählten, daß es in nächster Nähe eine ganze Reihe deutscher Dörfer gäbe und uns einluden, sie doch recht bald einmal mit so einem deutschen Flugzeug zu besuchen. Einer herzlichen Aufnahme konnte man gewiß sein, das fühlte man; aber schon hielt Joneck eine seiner kraftvollen Kauderwelschansprachen, deren russische Brocken zusammen mit lebhaften Gesten die Menge veranlaßten, für den Abflug Raum zu geben. Händedrücken, Einsteigen, Abschiedwinken und die „Bremse“ tanzte weiter durch die Mittagsböen. In einer reichlichen Stunde, 1.15 Uhr, war Mineralnyje Wody erreicht, die erste 500 km weite Etappe der Strecke Rostow – Baku zurückgelegt.
Auch hier, auf dem flugplanmäßigen Zwischenlandeplatz, war der Andrang der Neugierigen nicht geringer und beim Heranrollen an „Vaters Sommergehöft“ wäre uns um ein haar ein etwas angetrunkener Tawarüsch in den Propeller gelaufen. Bei Vater Sommer, dem treusorgenden Vertrauensmann der Junkers-Flugleitung, wurde Hühnerbraten zum Mittagbrot bestellt und ein Jüngling übernahm es, vom zwanzig Minuten entfernten Bahnhof Flaschenbier zu besorgen. Die Untersuchung des Kühlers hatte inzwischen ergeben, daß es geratener sei, den Weiterflug erst am folgenden Morgen nach gründlicher Reparatur vorzunehmen.
Der deutsche Konsul aus Baku war uns schon in Rostow als voraussichtlicher Zuwachs unserer Reisegenossenschaft für Mineralnyje Wody angekündigt worden. Endlich erschien Herr Böhme mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit in Begleitung seiner Frau, etwas atemlos und bestaubt von einem viertelstündigen Eilmarsch, aber froh, uns wenigstens noch getroffen zu haben. Denn er hatte in Erwartung des Flugzeuges den gegen Mittag durchgekommenen, nur einmal wöchentlich verkehrenden Expreß-Zug nicht benutzt und mußte doch dringend nach Baku.
Um 5.20 am nächsten Morgen flogen wir von Mineralnyje Wody ab und waren unter Abschneiden des nach Süden ausholenden Bahnbogens um 7.45 Uhr vormittags in Großny. Kurz vor der Landung hatten wir schon einen mit Ölbohrtürmen bedeckten Höhenzug überquert und jenseits der Stadt sah man eine ganze Ansammlung dieser schwärzlichen Gerüste. Das von Neugierigen dicht umlagerte Flugzeug wurde mit Benzin versorgt. Um 10.20 Uhr ging es weiter.
Wir befanden uns jetzt im Flußgebiet des Terek und kamen aus dem sogenannten Steppengebiet in das der Kaspischen Senke. Nordwärts sah man weit über endlose Weiten, im Süden traten die Kaukasus-Vorberge immer dichter heran, einen wundervollen Blick hatte man in das Felsental des Sulakflusses. Endlich kam das Kaspische Meer in Sicht und schnell näherten wir uns nun Petrowsk mit seiner weit in den See hinausragenden Mole. Dicht am Meer bogen wir nach Südosten ab. Der landschaftlich reizvollste Teil des Fluges begann.
Links die wechselnd beleuchtete, spiegelglatte Meeresfläche, grau im Dunst, blau, wo die Sonne zum Durchbruch kam, dunkelgrün zu unseren Füßen, als wir die erste größere Bucht abschneidend überquerten. Rechts waldloses zerklüftetes Felsengebirge. Nordwind beschleunigte jetzt unseren Flug.
12.30 Uhr waren wir über Djerbent. Blaue Kuppeln einer Moschee, alte Festungsmauern. Vor uns traten die Berge zurück, auch die Bahn bog mehr landeinwärts, während wir geradeaus unseren Kurs verfolgten. Das alte Leiden (Leckwerden der Kühler und Wasserverlust) zwingen zu nochmaliger Zwischenlandung. Es geht trotz typischer Löcher im ausgetrockneten Boden alles gut.
Eine reichliche englische Meile entfernt die graubraunen Häuser eines Tatarendorfes auf dem Bahndamm zu zweit wie Ölgötzen dastehende, Lammfellmützen tragende Landeseinwohner. Winken und Rufen rührt sie nicht. Schließlich macht sich der sprachkundige Konsul, von dem russischen Luftflottenmann begleitet, auf den Weg, sie heranzuholen. „Ich dachte, der liebe Gott wäre vom Himmel gefallen“, so tat der eine Tatar die Größe seines Erstaunens kund. Sie kamen näher und begrüßten uns alle auf türkische Art mit beiden Händen. Auf einem kleinen gesattelten Fuchs galoppierte ein junger Tatar ins Dorf und brachte einen großen Tonkrug herbei, mit dem aus einem nahen Wasserloch Wasser geholt wurde.
Schäfer suchte während des Nachfüllens einen einigermaßen brauchbaren Startplatz auf. Dann ging es quer über die mit modernsten Schützengräben und Drahtverhauen gegen die Landseite gesicherte Halbinsel Apscheron, über wahre Wälder von Ölbohrtürmen, über den Bahnhof von Balachanin, über friedlich in Gattern weidende Kamele, über das Häusermeer von Baku auf die Reede hinaus und in scharfer Kehrkurve zurück gegen den pfeifenden Nordwind zum hochgelegenen Flugplatz, wo wir 3.10 Uhr nachmittag landeten. Die „Bremse“ hat noch ihr Fahrgestell“, stellte Joneck befriedigt fest und dann schoben wir unser treues Luftroß in die bergende Halle.
Daß ich von Königsberg über Moskau mit dem Flugzeug gekommen war und ebenso wieder zurückfliegen wollte, konnte den Bakuern wenig imponieren. Sie sind längst damit vertraut, internationaler Luftknotenpunkt geworden zu sein, haben eine eigene „Aserbeidshanische Freiwillige Luftflotte“, die As-Dobroljot, gegründet und ein komplettes Verkehrsflugzeug gleich mit Besatzung gekauft, das nicht nur zu Sonderflügen nach Tiflis benutzt wird, sondern auch kaufmännischen Zwecken, z. B. der schnellen Verbindung mit Faktoreien an der persischen Grenze, dienen soll.“
Angelika Hofmann
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Weiterführende Informationen:
Kalenderblatt Nr. 13: Das Silvesterabenteuer mit einer Junkers F 13 in Russland vor 84 Jahren
Junkers Kalenderblatt Nr. 19 – Eine F 13 überfliegt den Kaukasus
Junkers Kalenderblatt Nr. 23 – Eröffnung des Luftverkehrs auf der Strecke Moskau-Tiflis