8. Oktober 1919 Junkers

Am Sonntag, den 5. Oktober 1919 landete zur Mittagszeit bei trüben Wetter ein sechssitziges Verkehrsflugzeug auf dem Flugplatz Johannisthal, das bei den flugbegeisterten Berlinern einiges Aufsehen erregte. Gehört oder gelesen hatten sie bereits von diesem Flugzeug, sein Höhenweltrekord vor vier Wochen hatte in vielen Zeitungen gestanden.

F 13 Annelise vor dem Höhenweltrekord am 13.09.1919

Das kleine silbern glänzende Metallflugzeug stand etwas verloren zwischen den großen Doppeldeckern aus Holz und Leinwand, die den Platz beherrschten. Nicht nur der Baustoff, auch seine Form war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Cockpit und Passagierkabine lagen nicht wie bei den Doppeldeckern zwischen den Flügeln, sondern waren über dem durchgehenden dicken Metallflügel angebracht, so dass sie bei eventuellen Bruchlandungen durch eine Knautschzone weitestgehend geschützt waren.

Pilot Hesse in der F 13 „Annelise“. Vor dem Flugzeug der Leiter der Forschungsanstalt „Prof. Junkers“ Otto Mader, der Amerikaner Hesse und der Konstrukteur der F 13 Otto Reuter.

Die bequeme Kabine, der vier Mitarbeiter der Herstellerfirma Junkers entstiegen, war dem Innenraum eines Automobils nachempfunden und mit zwei Sesseln und einer Rückbank ausgestattet. Bei kürzeren Flügen konnte zusätzlich ein fünfter Passagier vorn im offenen Cockpit neben dem Piloten Platz nehmen.

Kabine der F 13

Pilot Hans Hesse machte sich sofort nach der Landung auf die Suche nach einer Unterstellmöglichkeit, die er alsbald auch im Flugzeugschuppen der Deutschen Luftreederei fand. Zusammen mit seinem Monteur Maruszcyk prüfte er das Flugzeug nochmals auf Herz und Nieren – er hatte einen langen Flug vor sich und das Höhenrekordflugzeug war bisher nur Kurzstrecken geflogen. Die anderen Flugzeuginsassen hatten die schwierige Aufgabe übernommen, ausreichend Benzin für einen Langstreckenflug zu beschaffen – im Berlin der Nachkriegszeit ein fast aussichtsloses Unterfangen. Es gelang ihnen zwar bald, einige Schieber ausfindig zu machen, aber der Preis war zu hoch und das Benzin minderwertig. Erst nach zwei Tagen hatten sie endlich so viel Leichtbenzin beisammen, dass der geplante Flug vonstattengehen konnte. Am frühen Morgen des 8. Oktober 1919 hielt ein geschlossenes Auto vor dem Flugzeug, dem zwei dick vermummte Männer entstiegen. Sie stellten sich den Junkersleuten als Prof. Mehmed und Apotheker Ali aus Sofia vor und behaupteten, Vertreter des türkischen Halbmondes zu sein. Pilot Hans Hesse kannte die wahre Identität der beiden, er hatte sie im Hause des Kunsthistorikers Friedrich Sarre, mit dessen Familie er befreundet war, kennengelernt und von ihnen den Auftrag zu diesem Flug bekommen.

Pilot Hesse

Bei dem vermeintlichen bulgarischen Apotheker Ali handelte es sich um keinen geringeren aus den ehemaligen türkischen Kriegsminister Enver Pascha, der von Dr. Bahaeddin Shakir, einem Arzt der Universität Konstantinopel, begleitet wurde. Beide waren in der Türkei zum Tode verurteilt worden – Enver Pascha hatte durch seine verfehlte Kriegsstrategie den Untergang des Großosmanischen Reiches wesentlich verursacht und Bah Edding war einer der Hauptverantwortlichen an der Vertreibung und Ermordung von über einer Million Armenier während des ersten Weltkrieges. Sie waren nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 30. Oktober 1918 an Bord eines U-Bootes aus der Türkei geflohen und hatten sich bei Friedrich Sarre, der lange Zeit in der Türkei gelebt hatte und mit beiden befreundet war, verborgen gehalten.

Enver Pascha
Dr. Bahaeddin Shakir

Während seines Exils hatte Enver den Plan gefasst, die Reste seiner türkischen Armee mit der Sowjetarmee zu vereinigen und den Kampf gegen den Engländer, die die Ölfelder von Baku erobern wollten, fortzusetzen. Um die Verbindung mit den Bolschewisten aufzunehmen, musste er unbemerkt nach Moskau reisen. Der Weg per Eisenbahn war ihm versperrt, denn er wurde nicht nur von der neuen türkischen Regierung verfolgt, auch die Siegermächte des ersten Weltkrieges hatten inzwischen einen Haftbefehl für ihn ausgestellt.

In dieser Situation kam ihm der als „Bagdadflieger“ berühmte Oberleutnant Hesse, der ebenfalls im Hause Sarre ein- und ausging, gerade recht. Hesse hatte während des ersten Weltkrieges als Jagdflieger in der Türkei gegen die Engländer gekämpft und mit einem Flug von Berlin nach Bagdad Aufsehen erregt. Ihm war also auch ein Langstreckenflug von Berlin nach Moskau zuzutrauen. Außerdem hatte der in Dessau geborene Hans Hesse gute Beziehungen zu den dort ansässigen Junkers-Werken; er hatte dort schon mehrmals als Pilot ausgeholfen und schwärmte von dem dort entwickelten neuen Verkehrsflugzeug, dass er schon mehrmals geflogen war.

Pilot Hesse mit Passagieren in der F 13 „Annelise“

Mit dem Auftrag, eine solches Verkehrsflugzeug vom Typ F 13 für einen Flug nach Moskau zu chartern, reiste Hesse Ende September nach Dessau und platzte mit seinem Anliegen mitten in die Verwaltungskonferenz der Junkerswerke. Das dort versammelte Leitungspersonal wollte eine solch wichtige Entscheidung nicht ohne den Konzernchef Prof. Hugo Junkers treffen, der sich gerade zur Erholung in seinem Landhaus in Bayrischzell aufhielt. Sie telegrafierten ihm am 30. September: „Oberleutnant Hesse hat Gelegenheit politischen Flug mit Sechssitzer nach Rußland mit Unterstützung Deutscher und Sowjetregierung auszuführen […] Abflug allerspätestens Sonnabend nötig Punkt Empfehlen einstimmig Flug auszuführen Dringdrahtet Entscheidung“.

Prof. Junkers, der in Russland das gegebene Land für den Ausbau eines großzügigen Luftverkehrs und damit einen idealen Absatzmarkt für das neue Verkehrsflugzeug sah, gab sofort seine Zustimmung, auch wenn er dafür das eines der beiden bisher gebauten Verkehrsflugzeuge opfern musste. Als Vertreter seines Werkes sollte der aus Russland stammende Ingenieur Abraham Fränkel mitfliegen, der gleichzeitig als Dolmetscher dienen konnte.

Fränkel war sehr erfreut über das Angebot von Junkers und gab ohne Zögern seine Zustimmung. Auf diese Weise konnte er nach langjähriger Abwesenheit endlich einmal in sein Heimatland zurückkehren und seine Eltern wiedersehen. Voller Erwartung hatte auch er sich am Morgen des 8. Oktober auf dem Flugplatz Johannisthal eingefunden, musste jedoch zu seinem Leidwesen feststellen, dass Pilot Hesse mit den beiden Türken in einen heftigen Streit geraten war und sich dadurch der Abflug erheblich verzögerte.

Grund der Auseinandersetzung war das umfangreiche Gepäck, das die Türken mitgebracht hatten. Mit viel dicker Kleidung wollten die beiden Südländer für das winterliche Russland gerüstet sein. Da es jedoch unmöglich war, vier große Koffer und Handgepäck in dem beschränkten Gepäckraum des kleinen Flugzeuges unterzubringen, blieb ihnen letzten Endes nichts weiter übrig, als einen Teil des Gepäcks zurückzulassen.

Um 12 Uhr und 15 Minuten endlich erhob sich das überladene Flugzeug mühsam in die Luft. Neben Hesse hatte der Bordmechaniker Marusczyk Platz genommen, in der Kabine saßen Fränkel und die beiden Türken. Das nach einer Junkerstochter benannte Verkehrsflugzeug F 13 „Annelise“ war nur noch mit einem 160-PS-Mercedes-Motor ausgerüstet; der beim Höhenweltrekord verwendete stärkere BMW-Motor war ausgebaut worden, um den Alliierten keinen Grund für eine Beschlagnahme zu geben. Die Schwanzlastigkeit der Maschine konnte mit dem erstmals eingebauten Trimmtank etwas ausgeglichen werden: Sobald in den Hauptbehältern der Betriebsstoff verbraucht war, musste der Bordmechaniker Marusczyk Benzin aus dem hinteren Trimmtank nach vorn trimmen, damit die Maschine ruhig in der Luft lag. [1] Trotzdem blieb die Überlastung des Flugzeuges blieb nicht ohne Folgen: Nach zwei Stunden Flugzeug wurde der Kühler undicht, die Benzinpumpe versagte und Pilot Hesse kam um eine Notlandung nicht herum.

An Dramatik gewann das Ganze noch, als sich bei der Landung die Steuerseile des Höhen- und Seitenruders verklemmten und damit den Kurvenflug verhinderten. Hesse konnte die Maschine nun nicht mehr zum Landen gegen den Wind drehen und musste sie ihrem Schicksal überlassen. Dank der günstigen Tragflächenform, durch die das Flugzeug das Bestreben hatte, stets in die normale Fluglage zu gelangen, schwebte die „Annelise“ jedoch langsam und sicher der Erde entgegen und landete sanft – nur eben nicht wie vorgesehen, auf einem Stoppelacker, sondern auf einem frischgepflügten Feld. Zwar überstand das starre Fahrwerk diese Belastung, aber nach 17 Metern Auslauf geriet die Maschine in eine tiefe Furche und stellte sich auf den Kopf – was einen Bruch des Propellers zur Folge hatte. Trotzdem blieben alle Insassen unverletzt – ein recht glimpfliches Ende einer Fast-Katastrophe. Wie Hesse nach der Landung feststellte, befanden sie sich in der Nähe von Czersk, ca. 100 km südwestlich von Danzig.

Die Reparatur des Propellers war kein großes Problem: Hesse hatte in weiser Voraussicht einen Reservepropeller eingepackt. Nur die Ursache für das Verklemmen der Steuerseile war nicht so leicht zu finden. Hesse schrieb dazu an Prof. Junkers: „Betreffs des Czersker Steuerunglücks habe ich festgestellt, daß man in Dessau die Pedale für mich in das 6. Loch von oben, für den Monteur in das 7. gestellt hat, dadurch kam die unglückliche Verhakung beider Steuerungen. Es ist ein Wunder, daß nichts Schlimmeres passiert ist.“ [2]

Trotzdem der Schaden nur gering war, erzwangen die Reparaturarbeiten einen zweitägigen Aufenthalt. Erst am Vormittag des 10. Oktober 1919 konnte das Flugzeug wieder starten. Dieses Mal dauerte der Flug nur einen Stunde, dann musste Hesse erneut notlanden, weil der Kühler leckte. Er klagte: „An 8 Stellen ist der Kühler jetzt gelötet, es ist ein jammervoller Rekord. Meine nächste Panne wird der Auspufftopf sein, der mir nach 100 km sicher abfliegt. Für große Überlandflüge ist die Maschine also noch nicht ganz spruchreif.“ [3]

Dank der bereitwilligen Hilfe eines dort am Platze befindlichen Schlossers gelang es dem Monteur Marusczyk, den Kühler sowie den Vergaser wieder nordürftig zu flicken. Fränkel forderte jedoch sicherheitshalber von Dirschau aus einen neuen Kühler in Dessau an und ließ ihn zur nächsten Stadion Königsberg senden.

Am Montag, den 13. Oktober 1919 um 11 Uhr konnte der Flug fortgesetzt werden. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte die „Annelise“ eine Stunde später Königsberg und landete auf dem dortigen Militärflugplatz. Der Austausch des Kühlers und Einbau eines neuen Vergasers verzögerte den Weiterflug um weitere zwei Tage, denn der gesandte Kühler stimmte – wahrscheinlich wegen des Motoraustausches – nicht mit der unteren Motorhaube überein und machte Anpassungsarbeiten erforderlich.

Am Mittwoch, den 15. Oktober 1919, startete das Flugzeug um 12 Uhr 45 Minuten bei trüben Wetter, um nach nur anderthalb Stunden Flugzeit in Schaulen (Šiauliai) in Litauen erneut zu landen. Dieses Mal war kein technischer Defekt der Grund, sondern Pilot Hesse musste sich, wie in seinem Ausweis angegeben, bei dem Freikorpsführer im Baltikum General Rüdiger von der Goltz melden, der hier sein Hauptquartier haben sollte. Goltz war aber nicht anwesend und so wurde die gesamte F-13-Besatzung von der dort ebenfalls stationierten 1. Fliegertruppe der weißrussischen Koltschak-Armee in Empfang genommen, freundschaftlich bewirtet und mit Öl und Benzin für den Weiterflug versorgt.

Inzwischen war es schon nach 15 Uhr und die russischen Fliegeroffiziere machten Hesse darauf aufmerksam, dass es in dieser Gegend zeitiger dunkel wird und dass besser wäre, in Schaulen zu übernachten. Die Türken drängten jedoch energisch auf einen Weiterflug. Sie fühlten sich offensichtlich in dieser Gegend nicht sehr sicher, denn die Alliierten gewannen in Litauen immer mehr die Oberhand. Pilot Hesse glaubte, bis zum Abend wenigstens die russische Grenze noch erreichen zu können, jedoch erschwerte bald ein heftiger Gegenwind den Weiterflug. Durch mühsame Umgruppierung des Gepäcks und der Insassen erreichte die F 13 gerade mal eine Höhe von 600 Meter, die Fluggeschwindigkeit war sehr gering.

Das Wetter wurde immer schlechter, langsam wurde es dunkel und nach zwei Stunden Flugzeit sah Hesse auch noch eine dunkle Gewitterwand heraufziehen. Nach seiner Generalstabskarte befand er sich immer noch auf litauischem Gebiet, in ca. 60 km Entfernung lag Dünaburg. Da eine Landung auf freiem Felde nicht ratsam war, wollte er wenigstens Dünaburg erreichen, welches nach seiner militärischen Karte zur Hälfte von den sowjetrussischen Truppen besetzt sein sollte. Allerdings war die Stadt seit Wochen heftig umkämpft, die Frontlinie zwischen Litauern und Russen änderte sich laufend und die Lage des Flugplatzes war auch nicht so recht klar.

Der Gegenwind war inzwischen so heftig geworden, daß Hesse nur noch 500 Meter Flughöhe halten konnte. Eine Umfliegung der Gewitterwand war auch nicht mehr möglich. Um das Leben seiner Passagiere nicht zu gefährden entschloss sich Hesse zur Landung auf einer Waldwiese. Am nächsten Morgen sollte die Reise fortgesetzt werden.

Die F 13 „Annelise“ nach der Landung

Nach der Landung suchten Pilot Hesse und Ingenieur Fränkel die nächstliegende Ortschaft ?be?i, eine Gemeinde im Landkreis Jakobstadt (Jekabpils) auf, um einige Wachtposten für das Flugzeug aufzutreiben, denn die Türen der „Annelise“ waren nicht abschließbar. Beide fanden dort nur eine litauische Kompanie vor, dessen Führer nicht zugegen war. Der Feldwebel gab ihnen fünf Soldaten mit und empfahl, bei dem deutschen Tierarzt Dr. Ney um eine Übernach-tung nachzusuchen.

Dr. Ney empfing Hesse und Fränkel freundlich. Eine Übernachtung sei kein Problem. Er stellte ihnen sogar Bauernwagen zur Verfügung, damit sie ihr Gepäck aus dem Flugzeug holen konnten. Auf dem Rückweg stießen sie auf eine berittene Mannschaft mit einem Offizier an der Spitze, der die inzwischen zum Flugzeug beorderte Wache seltsamerweise gegen eine andere austauschen wollte. Kaum hatten sich die übermüdeten Reisenden im Hause des Tierarztes zur Ruhe gelegt, wurden sie vom inzwischen eingetroffenen litauischen Kompanieführer und dessen Stellvertreter unsanft aus dem Schlaf gerissen. Die Litauer verlangten die Ausweise und teilten der Flugzeugbesatzung mit, dass keiner das Haus verlassen darf. Sie hätten Posten aufgestellt sind und diesbezüglich strenge Weisung erlassen. Nach einer Stunde kehrten die beiden litauischen Offiziere in Begleitung von zwei Offizieren der Kontr-Raswjedka [4] zurück. Hesse und seine Leute wurden samt ihrem Gepäck in das Polizeirevier überführt. Dort wurden sie gründlich durchsucht.

Bald erfuhr Fränkel auch den Grund für diese drakonischen Maßnahmen: Der lettische Ge-heimdienst hatte in Erfahrung gebracht, dass ein bolschewistisches Flugzeug aus Deutschland kommend nach Russland unterwegs sei. Dieses Flugzeug würde in Schaulen landen, wo sich in einem Teehaus deutsche Spartakisten und mit den Bolschewisten treffen würden, um ihre Pläne untereinander abzustimmen. Da die F 13 aus Schaulen kam, wurde sie für das russische Flugzeug gehalten.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die F-13-Besatzung offensichtlich nicht die gesuchten Bolschewisten waren, wurden Hesse und seine Leute freundlicher behandelt. Der aus Russland stammende und – wie er Fränkel vertraulich mitteilt – sehr schlecht bezahlte Chef der litauischen Geheimpolizei hatte außerordentlichen Gefallen am Fotoapparat des einen Türken und Fränkel riet dringend, ihm den Fotoapparat zu schenken, um dadurch eventuell freizukommen. Sein Vorschlag wurde leider nicht beachtet.

Am nächsten Morgen um vier Uhr wurden Fränkel und die beiden Türken unter Bewachung in einem Bauernwagen nach Rokiškis transportiert, wo sich der Sitz der Geheimpolizei befand. Hauptmann Hesse, Marusczyk und die beiden litauischen Offiziere legten dieselbe Strecke in der „Anneliese“ zurück.

In Rokiškis kam zu einem heftigen Streit zwischen dem Chef der Geheimpolizei und dem Ortskommandanten. Der drogen- und alkoholabhängige Offizier wollte die Leute erschießen, Geld und Sachen behalten und nur das Flugzeug abliefern. Der Geheimdienstchef wollte sie am liebsten alle freilassen, da er sie für ungefährlich hielt, aber er musste die Gefangenen der Obrigkeit und der englischen Mission übergeben. Zur Beschleunigung der Angelegenheit wollte er mit ihnen aber nach Kowno reisen.

Fränkel versuchte Hesse, der mit den beiden litauischen Offizieren ebenfalls nach Kowno fliegen soll, davon zu überzeugen, unterwegs einfach die Route zu ändern und nach Königsberg zu fliegen, denn Bord der F 13 befanden sich alle Ausweise, wichtige Papiere und Geld. Hesse wollte jedoch auf keinen Fall die beiden Türken gefährden und lehnte den Vorschlag ab. Die Türken und Fränkel erreichten Kowno unter Bewachung eines Obersten nach einer 36stündigen Eisenbahnfahrt. Sie wurden im Hotel Berutas untergebracht und von einem Offi-zier und einem Unteroffizier bewacht; es wurde ihnen aber gestattet, in Begleitung auszu-gehen. Über die Gründe der Verhaftung berichtete Fränkel nach seiner Rückkehr: „Ich wurde anfangs für Radek gehalten und auf meine Frage, ob er sich nie die Mühe gegeben habe, eine Abbildung von Radek sich anzusehen, meinte er, sie seien nicht so naiv, sondern klug genug um alles durchschauen zu können, worauf ich ihm antwortete, sie seien sogar viel zu klug.“[5]

Inzwischen war auch Hesse mit der F-13 und den beiden litauischen Offizieren in Kowno (Kauno) eingetroffen. Er wurde ebenfalls im Hotel untergebracht. Während eines Spazierganges entwischte er seiner Begleitung und setzte sich mit der Deutschen Mission in Verbindung. Der diensthabende Offizier, der auch während des Krieges in der Türkei war, erkannte ihn sofort als den „Bagdad-Flieger“ und versprach Hilfe, doch es verging Tag um Tag, ohne dass sich die Lage der F-13-Besatzung änderte.

F 13 nach der Beschlagnahme in Kowno

Eines Tages erfuhr Hesse, dass die Litauer versuchen wollen, die „Annelise“ zu fliegen. Daraufhin beschloss er, den Apparat fluguntüchtig zu machen und bot er einem Offizier zum Schein an, ihm das Flugzeug erklären zu wollen. Unter dem Vorwand, eine leckende Stelle abdichten zu wollen, erbat er sich Werkzeug und unterbrach bei der „Reparatur“ die Benzinzufuhr zum Vergaser.[6] Inzwischen hatten auch die Junkerswerke von der Notlandung ihrer „Annelise“ erfahren. Dort versuchte man sofort, über das Auswärtige Amt die Freigabe von Flugzeug und Insassen zu bewirken, wurde aber hingehalten. Hesse bekam immer mehr den Eindruck, dass von der Deutschen Mission wenig Unterstützung zu erwarten sei und nahm die Angelegenheit selbst in die Hand.

F 13 in Kowno

Nachdem er das Flugzeug fluguntüchtig gemacht hatte, sah er es als seine nächste Aufgabe an, die beiden Türken in Sicherheit zu bringen. Bei einem Spaziergang lernte er zwei in lettischen Diensten stehende deutsche Piloten kennen. Diese klagten darüber, dass sie schon seit längerem keinen Lohn mehr bekommen hätten, weil der Einfluss der Entente in Litauen immer größer würde und man die Deutschen am liebsten los wäre. Der von Hesse gebotene hohe Lohn reizte den Fliegerhauptmann Harry Rother, aber ein Flug in das bolschewistische Russland kam für ihn nicht in Frage. Sie kamen überein, dass er beide Türken zurück nach Deutschland fliegen sollte.

Am 28. Oktober 1919 war es soweit. Hesse hatte einen Flugplatz am Rande der Stadt an einem Fluss ausfindig gemacht. Mit den beiden Türken und der litauischen Begleitung unternahm er einen Spaziergang dorthin. Am Flussufer schlug er eine Rast vor und beide Türken packten ein paar Tafeln Schokolade aus. Freigiebig gaben sie dem litauischen Soldaten eine davon ab, der sie auch mit großem Genuss verzehrte. Nach kurzer Zeit wurde er sehr schläfrig – der Arzt Bahaeddin hatte die Tafel mit Morphium präpariert. So bekam er auch nicht mehr richtig mit, dass auf der Wiese am Fluss ein alter DHW-Doppeldecker mit litauischem Kennzeichen landete, der die beiden Türken aufnahm und entschwand.

Hesse tat natürlich so, als ob er mit der Sache nichts zu tun hätte und die beiden Türken von einem litauischen Flugzeug entführt worden wären. Es half ihm nichts, er und die beiden Junkers-Mitarbeiter wurden sofort unter verschärften Arrest gestellt und getrennt voneinander in verschiedene Gefängnisse gebracht.

Auch die Deutsche Mission wollte nach der Befreiung der Türken mit der ganzen Sache am liebsten nichts mehr zu tun haben. Auf Druck des Offizierskorps sah sich Exzellenz Zimmerle jedoch genötigt, wenigstens die Befreiung von Hesse in die Wege zu leiten, da dieser noch der deutschen Armee angehörte und für den Moskau-Flug nur beurlaubt worden war. Anfang November 1919 kehrte Hesse zu seiner militärischen Einheit nach Deutschland zurück, auch der Junkersmonteur Marusczyk wurde am 4. November 1919 freigelassen. Für den Ingenieur Abraham Fränkel sah es hingegen weniger gut aus. Die Litauer misstrauten ihm wegen seiner russischen Herkunft, er musste weiter in Haft bleiben. Gegen Zahlung einer größeren Summe kam Fränkel am 11. März 1920 endlich frei und kehrte nach Dessau zurück.

Enver Pascha gelang es noch 1920, nach Russland zu gelangen. Er nahm in Buchara Verbindung mit den Führern der Basmatschen auf. Sein Ziel war es, die islamischen, turk-stämmigen Völker Mittelasiens in einem Kalifat zu vereinigen, dessen Zentrum Samarkand sein sollte. Doch auch diesmal scheiterte seine politische und militärische Strategie. Der Aufstand der Basmatschen wurde von der Roten Armee niedergeschlagen und Enver fiel bei einem erbitterten Gefecht am 4. August 1922 bei Baldschuan in Tadschikistan.

Dr. Bahaeddin Shakir überlebte das Jahr 1922 ebenfalls nicht, er wurde am 17. April 1922 in Berlin von einem Armenier erschossen.[7]

Und was war nun aus der F 13 „Annelise“ geworden? Die Junkerswerke hatten das Auswärtige Amt eingeschaltet, um das Flugzeug freizubekommen. Am 26. April 1920 berichtete das Auswärtige Amt über das Ergebnis seiner Bemühungen: „Nach Auffassung der Litauischen Regierung ist die Beschlagnahme dadurch gerechtfertigt, dass das Flugzeug der Russischen Regierung als Muster für Lieferungen nach Russland verkauft werden sollte. Infolge des bestehenden Kriegszustandes hätte es beschlagnahmt werden müssen und sei nunmehr Eigentum der Litauischen Regierung. Die Litauische Regierung ist aber nicht abgeneigt, das Flugzeug zu verkaufen und mit Ihrer Firma in Verhandlungen dieserhalb einzutreten. …[8] Bei den anschließenden Verhandlungen forderten die Litauer jedoch eine so hohe Abfindungssumme, dass die Junkerswerke passen mussten.

Am 15. Juli 1920 teilte Rechtsanwalt Gluskin aus Eydtkuhnen mit, dass die F 13 „Annelise“ schon zweimal geflogen sei, nachdem die Litauer einen neukonstruierten Falltank eingebaut hatten.[9][10]

Ein letztes Schriftstück zum Schicksal der F 13 „Annelise“ ist datiert vom 7. September 1923. Der Junkersvertreter R. Baltschunas schrieb aus Kowno an die Abteilung Luftverkehr der Junkerswerke, dass die F 13 am 22. August 1923 infolge einer Motorstörung abgestürzt sei.

Im Internet berichtet der litauische Ingenieur Antanas Jokubaviius auf der Webseite http://aistis.eu/index.php/deutsch, dass die F 13 „Annelise“ in Obeliai repariert und bei einem Probeflug wieder abgestürzt sei. Dabei sei sie endgültig zerstört worden. Die abgeschnittene Schaufelspitze des Propellers mit aufmontierten Fotos der F 13 „Annelise“ wird immer noch als Erinnerung an den verunglückten Moskauflug in Litauen aufbewahrt.

Angelika Hofmann

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Weiterführende Informationen:

Junkers F 13
Höhenweltrekord der Junkers F 13

Quellen:

  1. Kusch Adam der Vogelmann. … S. 120
  2. Schreiben Hans Hesse an Prof. Junkers vom 11.10.1919
  3. Schreiben Hans Hesse an Prof. Junkers vom 11.10.1919
  4. litauischer Geheimdienst
  5. Fränkel: Bericht über den Flug Berlin-Moskau (Anlage zum Schreiben an Seitz vom 27.04.1920)
  6. Kusch Adam der Vogelmann. … S. 131
  7. www.zoominfo.com/people/level2page34923.aspx
  8. Schreiben Auswärtiges Amt an die Junkerswerke vom 26.04.1920
  9. Telegramm von Rechtsanwalt Gluskin an Junkerswerke vom 15.07.1920
  10. Kusch Adam der Vogelmann, S. 140
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