Mit dem Auftrag, eine solches Verkehrsflugzeug vom Typ F 13 für einen Flug nach Moskau zu chartern, reiste Hesse Ende September nach Dessau und platzte mit seinem Anliegen mitten in die Verwaltungskonferenz der Junkerswerke. Das dort versammelte Leitungspersonal wollte eine solch wichtige Entscheidung nicht ohne den Konzernchef Prof. Hugo Junkers treffen, der sich gerade zur Erholung in seinem Landhaus in Bayrischzell aufhielt. Sie telegrafierten ihm am 30. September: „Oberleutnant Hesse hat Gelegenheit politischen Flug mit Sechssitzer nach Rußland mit Unterstützung Deutscher und Sowjetregierung auszuführen […] Abflug allerspätestens Sonnabend nötig Punkt Empfehlen einstimmig Flug auszuführen Dringdrahtet Entscheidung“.
Prof. Junkers, der in Russland das gegebene Land für den Ausbau eines großzügigen Luftverkehrs und damit einen idealen Absatzmarkt für das neue Verkehrsflugzeug sah, gab sofort seine Zustimmung, auch wenn er dafür das eines der beiden bisher gebauten Verkehrsflugzeuge opfern musste. Als Vertreter seines Werkes sollte der aus Russland stammende Ingenieur Abraham Fränkel mitfliegen, der gleichzeitig als Dolmetscher dienen konnte.
Fränkel war sehr erfreut über das Angebot von Junkers und gab ohne Zögern seine Zustimmung. Auf diese Weise konnte er nach langjähriger Abwesenheit endlich einmal in sein Heimatland zurückkehren und seine Eltern wiedersehen. Voller Erwartung hatte auch er sich am Morgen des 8. Oktober auf dem Flugplatz Johannisthal eingefunden, musste jedoch zu seinem Leidwesen feststellen, dass Pilot Hesse mit den beiden Türken in einen heftigen Streit geraten war und sich dadurch der Abflug erheblich verzögerte.
Grund der Auseinandersetzung war das umfangreiche Gepäck, das die Türken mitgebracht hatten. Mit viel dicker Kleidung wollten die beiden Südländer für das winterliche Russland gerüstet sein. Da es jedoch unmöglich war, vier große Koffer und Handgepäck in dem beschränkten Gepäckraum des kleinen Flugzeuges unterzubringen, blieb ihnen letzten Endes nichts weiter übrig, als einen Teil des Gepäcks zurückzulassen.
Um 12 Uhr und 15 Minuten endlich erhob sich das überladene Flugzeug mühsam in die Luft. Neben Hesse hatte der Bordmechaniker Marusczyk Platz genommen, in der Kabine saßen Fränkel und die beiden Türken. Das nach einer Junkerstochter benannte Verkehrsflugzeug F 13 „Annelise“ war nur noch mit einem 160-PS-Mercedes-Motor ausgerüstet; der beim Höhenweltrekord verwendete stärkere BMW-Motor war ausgebaut worden, um den Alliierten keinen Grund für eine Beschlagnahme zu geben. Die Schwanzlastigkeit der Maschine konnte mit dem erstmals eingebauten Trimmtank etwas ausgeglichen werden: Sobald in den Hauptbehältern der Betriebsstoff verbraucht war, musste der Bordmechaniker Marusczyk Benzin aus dem hinteren Trimmtank nach vorn trimmen, damit die Maschine ruhig in der Luft lag. [1] Trotzdem blieb die Überlastung des Flugzeuges blieb nicht ohne Folgen: Nach zwei Stunden Flugzeug wurde der Kühler undicht, die Benzinpumpe versagte und Pilot Hesse kam um eine Notlandung nicht herum.
An Dramatik gewann das Ganze noch, als sich bei der Landung die Steuerseile des Höhen- und Seitenruders verklemmten und damit den Kurvenflug verhinderten. Hesse konnte die Maschine nun nicht mehr zum Landen gegen den Wind drehen und musste sie ihrem Schicksal überlassen. Dank der günstigen Tragflächenform, durch die das Flugzeug das Bestreben hatte, stets in die normale Fluglage zu gelangen, schwebte die „Annelise“ jedoch langsam und sicher der Erde entgegen und landete sanft – nur eben nicht wie vorgesehen, auf einem Stoppelacker, sondern auf einem frischgepflügten Feld. Zwar überstand das starre Fahrwerk diese Belastung, aber nach 17 Metern Auslauf geriet die Maschine in eine tiefe Furche und stellte sich auf den Kopf – was einen Bruch des Propellers zur Folge hatte. Trotzdem blieben alle Insassen unverletzt – ein recht glimpfliches Ende einer Fast-Katastrophe. Wie Hesse nach der Landung feststellte, befanden sie sich in der Nähe von Czersk, ca. 100 km südwestlich von Danzig.
Die Reparatur des Propellers war kein großes Problem: Hesse hatte in weiser Voraussicht einen Reservepropeller eingepackt. Nur die Ursache für das Verklemmen der Steuerseile war nicht so leicht zu finden. Hesse schrieb dazu an Prof. Junkers: „Betreffs des Czersker Steuerunglücks habe ich festgestellt, daß man in Dessau die Pedale für mich in das 6. Loch von oben, für den Monteur in das 7. gestellt hat, dadurch kam die unglückliche Verhakung beider Steuerungen. Es ist ein Wunder, daß nichts Schlimmeres passiert ist.“ [2]
Trotzdem der Schaden nur gering war, erzwangen die Reparaturarbeiten einen zweitägigen Aufenthalt. Erst am Vormittag des 10. Oktober 1919 konnte das Flugzeug wieder starten. Dieses Mal dauerte der Flug nur einen Stunde, dann musste Hesse erneut notlanden, weil der Kühler leckte. Er klagte: „An 8 Stellen ist der Kühler jetzt gelötet, es ist ein jammervoller Rekord. Meine nächste Panne wird der Auspufftopf sein, der mir nach 100 km sicher abfliegt. Für große Überlandflüge ist die Maschine also noch nicht ganz spruchreif.“ [3]
Dank der bereitwilligen Hilfe eines dort am Platze befindlichen Schlossers gelang es dem Monteur Marusczyk, den Kühler sowie den Vergaser wieder nordürftig zu flicken. Fränkel forderte jedoch sicherheitshalber von Dirschau aus einen neuen Kühler in Dessau an und ließ ihn zur nächsten Stadion Königsberg senden.
Am Montag, den 13. Oktober 1919 um 11 Uhr konnte der Flug fortgesetzt werden. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte die „Annelise“ eine Stunde später Königsberg und landete auf dem dortigen Militärflugplatz. Der Austausch des Kühlers und Einbau eines neuen Vergasers verzögerte den Weiterflug um weitere zwei Tage, denn der gesandte Kühler stimmte – wahrscheinlich wegen des Motoraustausches – nicht mit der unteren Motorhaube überein und machte Anpassungsarbeiten erforderlich.
Am Mittwoch, den 15. Oktober 1919, startete das Flugzeug um 12 Uhr 45 Minuten bei trüben Wetter, um nach nur anderthalb Stunden Flugzeit in Schaulen (Šiauliai) in Litauen erneut zu landen. Dieses Mal war kein technischer Defekt der Grund, sondern Pilot Hesse musste sich, wie in seinem Ausweis angegeben, bei dem Freikorpsführer im Baltikum General Rüdiger von der Goltz melden, der hier sein Hauptquartier haben sollte. Goltz war aber nicht anwesend und so wurde die gesamte F-13-Besatzung von der dort ebenfalls stationierten 1. Fliegertruppe der weißrussischen Koltschak-Armee in Empfang genommen, freundschaftlich bewirtet und mit Öl und Benzin für den Weiterflug versorgt.
Inzwischen war es schon nach 15 Uhr und die russischen Fliegeroffiziere machten Hesse darauf aufmerksam, dass es in dieser Gegend zeitiger dunkel wird und dass besser wäre, in Schaulen zu übernachten. Die Türken drängten jedoch energisch auf einen Weiterflug. Sie fühlten sich offensichtlich in dieser Gegend nicht sehr sicher, denn die Alliierten gewannen in Litauen immer mehr die Oberhand. Pilot Hesse glaubte, bis zum Abend wenigstens die russische Grenze noch erreichen zu können, jedoch erschwerte bald ein heftiger Gegenwind den Weiterflug. Durch mühsame Umgruppierung des Gepäcks und der Insassen erreichte die F 13 gerade mal eine Höhe von 600 Meter, die Fluggeschwindigkeit war sehr gering.
Das Wetter wurde immer schlechter, langsam wurde es dunkel und nach zwei Stunden Flugzeit sah Hesse auch noch eine dunkle Gewitterwand heraufziehen. Nach seiner Generalstabskarte befand er sich immer noch auf litauischem Gebiet, in ca. 60 km Entfernung lag Dünaburg. Da eine Landung auf freiem Felde nicht ratsam war, wollte er wenigstens Dünaburg erreichen, welches nach seiner militärischen Karte zur Hälfte von den sowjetrussischen Truppen besetzt sein sollte. Allerdings war die Stadt seit Wochen heftig umkämpft, die Frontlinie zwischen Litauern und Russen änderte sich laufend und die Lage des Flugplatzes war auch nicht so recht klar.
Der Gegenwind war inzwischen so heftig geworden, daß Hesse nur noch 500 Meter Flughöhe halten konnte. Eine Umfliegung der Gewitterwand war auch nicht mehr möglich. Um das Leben seiner Passagiere nicht zu gefährden entschloss sich Hesse zur Landung auf einer Waldwiese. Am nächsten Morgen sollte die Reise fortgesetzt werden.